Es ist noch dunkel, als das Telephon klingelt. Ich taste nach dem schnurlosen Teil, zunächst ohne den Kopf zu heben. Seufze auf. Bin stande pede wach. Das kleine orange Display hilft mir beim Suchen. Ich hebe ab und höre ein schluchzen: „Mama ist tot.“ Ich schweige, tief im Bauch rührt sich ein Staunen. Ich hätte nicht erwartet, daß mein Stiefvater schluchzt. „Sie hat heute morgen zwischen 6:00 und 7:00 aufgehört zu atmen….“ Ich schweige immer noch. Dann setzt meine Erinnerung aus. Hat er noch was gesagt? Sonderbar, ich weiß es einfach nicht mehr. Das nächste, was ich weiß ist, das ich sage: „Gut, wir kommen.“ Dann drücke ich die AUS-Taste, setze mich auf und atme tief durch. Beat schaut mich an. Ich weiß seltsamer Weise auch da nicht mehr, ob ich etwas gesagt habe. Vermutlich. Ich erinnere mich, daß ich gar keine Hast gefühlt habe. Ich habe alle Zeit der Welt. Sie kann mir ja nicht mehr weglaufen…
Ich habe alle Zeit der Welt – sie kann ja nicht mehr weglaufen
Wieder im Bauch denke ich, daß ich dunkle Kleidung heraussuchen muss. Wir machen Kaffee, trinken und erst dann brechen wir auf ins Krankenhaus. Das Zimmer meiner Mutter müssen wir erst noch suchen. Sie wurde gestern verlegt. Leise Wut streift mich bei dem Gedanken daran immer noch. Ich höre wieder die Stimme meines Stiefvaters: „Sie haben mir sogar ein Bett hinein gestellt. Ihm! Keine einzige Frage, ob ich vielleicht noch Zeit mir ihr haben wolle. Nichts. Purer, reiner Egoismus.“ Jetzt könnte ich vor Wut wieder heulen. Ich schlucke, atme tief durch. Atme langsam, schaue auf anderes. Atme tief durch die Nase. Dann lässt der Tränkendruck am Nasenhöcker nach. Die Tränen sind zurück ihn ihren Hinterzimmern.
Erinnerungen im Schlaglichtmodus
Sind wir zu Fuß gegangen? Mit dem Auto? Ich höre, wie wir den Krankenhausgang entlang gehen auf der Suche zu ihrem Zimmer. Die Absätze klappern lange. Meine Mutter hätte das kommentiert. Hat das bei anderer Gelegenheit in ihrer letzten Phase kommentiert, ich solle die Schuhe wechseln. Man würde mich ja durch die ganze Station hören…. Ich hatte sie damals angestarrt. Fassungslos. Hatte sie wirklich nichts besseres zur Begrüßung zu bieten. Plötzlich hatte ich mich antworten gehört: „Ein einfaches Guten Tag hätte auch gereicht.“ Meine Mutter hatte verblüfft reagiert. Das Thema gewechselt. Es weg gesteckt. Das steht mir jetzt wieder vor Augen. Das steht mir seither oft vor Augen. Letzte Grüße einer Sterbenden. Hatte sie nichts besseres mit auf den Weg zu geben? Das Zimmer liegt ziemlich am Ende des Ganges.
Gesichtszüge, die meiner Mutter nur noch ähneln
Die Person im Krankenbett ist mir fremd. Die Gesichtszüge ähneln denen meiner Mutter. Doch die Hautfarbe stimmt nicht. Die Hautspannung ist falsch. Sie sieht nach Tod aus. Die Hände sittsam über der Decke in der Körpermitte gefaltet. Das kennt man. Das ist so falsch…. So hat meine Mutter nie gelegen.
Fremdbestimmt und übergriffig
Mein Stiefvater sitzt wie ein weißköpfiger Buddha neben ihr. Wie sonderbar. Warum schaut er sie nicht an? Er sitzt am Kopfende neben ihr. Redet. Fängt an ihren Kopf zu streicheln. Ich würde ihm am liebsten mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen: „Was erdreistet er sich? Im Leben durfte er das nicht, wie kann er sich das jetzt erlauben? Die Wut sammelt sich im Bauch, klopft an, will raus. Ich muss mich beherrschen. Im Tod werden wir zur Verfügungsmasse Dritter. Oh, wie hätte Mom das gehasst!
Nein, ich brauche keinen Trost!
Eine Pastorin kommt dazu. Will trösten, sieht meine Wut. Fehlinterpretiert sie. Ich reagiert mit unterdrückter Wut, weise ihre Annahmen zurück. Muss raus. Beat kommt mit. Gegenüber ist ein Aufenthaltsraum. Ich zische meinen Ärger leise raus. Er nimmt mich in den Arm.
Wieder die Pastorin mit ihren irrigen Annahmen. Ich glühe eine Richtigstellung- . Sie versteht. Wut auf meinen Stiefvater und seine erdrückende Besitzgier. Sie überredet ihn, heim zu gehen. Er geht, kommt wie ein Boomerang zurück. Geht dank ihr – wieder. Zum Abschied gibt sie mir ihre Nummer und ermuntert mich: Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie sie brauchen. Lassen Sie sich nicht von den Mitarbeitern drängen. Das rechne ich ihr hoch an.
Einfach nur dabei sitzen und staunen
Wir sitzen lange bei meiner Mutter. Es ist ein heller Raum. Ich erinnere mich an gelb und weiß. Ein intensives Licht hinter den Scheiben. Ich schaue auf diese fremde Gestalt. So fremd, so verkleidet. Nein, das ist nicht meine Mutter. – ich kann sie nicht berühren. Sitze neben ihr schaue sie an. Es heißt, andere würden reden. Ich rede nicht. Es ist so eine lärmende, betäubende Stille. Nur ab und zu wechseln wir ein Wort, Beat und ich. Es stört uns keiner.
Mittags ist es gut
Mittags ist es gut. Ich kann gehen. Als wir das Haus verlassen, habe ich das Gefühl aus einem Kabinett zu kommen. Nach der Dämmerung hat sich der Morgen in einen wunderschönen Tag gekleidet. Einer dieser unglaublich blauen Winterhimmel, fast wolkenlos. Die Sonne brennt. Wir gehen den Hügel auf den Rathausplatz hinunter. Ich bin irritiert. Das habe ich alles gar nicht wahr genommen. Dabei bin ich doch eigentlich sehr gefasst. Fast gefühllos. Ein Mittelaltermarkt umgibt uns plötzlich. Ich habe Lust, darüber zu schlendern. Und so flanieren wir in dieser wunderbaren Herbstwärme die Stände entlang, eingehüllt in eine Glasglocke. Es ist ein wenig wie im Aquarium. Dann gehen wir langsam heim und der Tag versinkt im Dunkel. Was wir danach gemacht haben? Keine Ahnung. War ja nicht wichtig. Tief durchatmen. Ob wir es uns haben gut gehen lassen? Habe ich geweint? Sonderbar, daß ich das gar nicht mehr weiß. Es war ruhig, belanglos.
Es reicht, den Bestatter am Montag anzurufen
Bewußt erinnere ich mich nur an eines. Den Bestatter informieren wir erst morgen. Sonntags muss er nicht arbeiten. Keiner kann weglaufen. Im Krankenhaus gibt es eine Kühlung. Also, worum sollen wir uns sorgen. Gott sei Dank arbeite ich mit Bestattern. Das entspannt.
